Hintergrund
ǀ Viele der hier beschriebenen Neuerungen sind pressekundig. Die Darstellung zeigt eine Auswahl und Zusammenfassung der im (späten) Herbst bis zum Jahresbeginn eingetretenen Neuerungen , die im Arbeits- und Sozialrecht seit Jahresbeginn zu beachten sind. Es werden sowohl gesetzliche Neuerungen als auch zwei Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) dargestellt.
1. Elektronische Übermittlungen im Sozialversicherungsrecht
Die Digitalisierung schreitet auch im Sozialversicherungsrecht voran. Seit dem 1. Januar 2023 gilt Folgendes:
- Die gesetzliche Rentenversicherung nimmt Entgeltabrechnungen nun digital entgegen, nur auf Antrag des Arbeitgebers können bis zum 31. Dezember 2026 die Abrechnungsdaten weiterhin papierhaft gesendet werden.
- Die Einreichung von Arbeitsbescheinigungen, EU-Arbeitsbescheinigungen und Nebeneinkommensbescheinigungen bei der Bundesagentur für Arbeit kann nur noch online erfolgen.
- In der gesetzlichen Krankenversicherung gibt es nun die eAU. Das bedeutet, dass sich ein vom Arzt krankgeschriebener Arbeitnehmer nur noch beim Arbeitge-ber telefonisch / per E-Mail krankmelden muss. Der Rest wird im Hintergrund erledigt: Der Arzt übermittelt die eAU an die Krankenversicherung und der Arbeitgeber fragt diese nach Krankmeldung des Arbeitnehmers bei der Versicherung direkt ab. Da die privaten Krankenversicherungen jedoch (noch) nicht an diesem Verfahren teilnehmen, müssen Arbeitgeber weiterhin papierhafte und digitale Prozesse zum Umgang mit der AU vorhalten.
2. Pflegezeit und Familienzeit
Unter Pflegezeit nach dem Pflegezeitgesetz wird die Zeit zur Pflege eines pflegebedürftigen nahen Angehörigen zu Hause verstanden, in der die Arbeitszeit für maximal sechs Monate reduziert werden kann. Die Pflegebedürftigkeit ist dem Arbeitgeber nachzuweisen. Dies gilt in Betrieben mit 16 oder mehr Mitarbeitern. In Betrieben mit 15 oder weniger Mitarbeitern kann die Pflegezeit – also die Reduktion der Arbeitszeit oder Freistellung – auf Antrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbart werden. Die Ablehnung des Antrags ist innerhalb von vier Wochen zu begründen. Die Pflegezeit in Betrieben mit 16 und mehr Mitarbeitern kann mit einer Vorankündigung von nur zehn Tagen beansprucht werden, was für den Arbeitgeber u. U. sehr kurzfristige Umstrukturierungen der Arbeit und – in Zeiten von Arbeitskräftemangel – eine Mehrbelastung der Kollegen mit sich bringen kann.
Nach der Pflegezeit oder auch unabhängig davon kann Familienpflegezeit nach dem Familienpflegezeitgesetz in Anspruch genommen werden, längstens für insgesamt 24 Monate. Hierbei gilt, dass die Familienpflegezeit in Betrieben ab 26 Mitarbeitern als Anspruch des Arbeitnehmers ausgestaltet ist und dieser mindestens 15 Stunden wöchentlich arbeitet. Die Familienpflegezeit ist mindestens acht Wochen vorher schriftlich (!) inkl. der Dauer anzukündigen. Bei 25 oder weniger Mitarbeitern kann die Familienpflegezeit analog der Pflegezeit mit dem Arbeitgeber vereinbart werden, wenn dieser dies nicht innerhalb von vier Wochen begründet ablehnt.
Für die Dauer der (Familien-)Pflegezeit besteht Kündigungsschutz für die betroffenen Mitarbeiter. Unter Umständen wird 2023 auch der bezahlte Vaterschaftsurlaub mit einer Dauer von zwei Wochen nach der Geburt eines Kindes umgesetzt; eine weitere Belastung des Arbeitgebers in Zeiten des Fachkräftemangels.
3. Umgang mit Zeiterfassung und Urlaub – zwei wichtige Entscheidungen des BAG im Jahr 2022
a. Zum Umgang mit Urlaubsansprüchen – BAG-Urteile vom 20. Dezember 2022, Az. 9 AZR 266/20 und 9 AZR 245/19
Nachdem bereits der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil vom 20. September 2022 Az. C 120/21 entschieden hatte, dass Urlaubsansprüche nicht ohne Weiteres verjähren können, schloss sich nun auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) diesem Urteil an. Demnach verjähren die Resturlaubsansprüche eines Arbeitnehmers erst dann nach drei Jahren, wenn der Arbeitgeber rechtzeitig darauf hingewiesen hat, dass dem Arbeitnehmer noch Resturlaubsansprüche zustehen und er diese nehmen solle. Erst im Anschluss beginnt die Verjährungsfrist nach den normalen Verjährungsregeln zu laufen. Der Hinweis des Arbeitgebers auf den Resturlaub stelle eine Obliegenheit dar, durch deren Erfüllung er zur Rechtssicherheit beitragen könne, urteilten die Richter.
Auch bei längerfristig kranken Mitarbeitern verfällt der Urlaub nicht automatisch nach 15 Monaten. Hier urteilte das BAG nun wie der EuGH: Es ist zu unterscheiden zwischen dem Urlaub, der noch aus dem Jahr vor der Krankheit stammt und dem Urlaub aus der Krankheitsphase. Ersterer verfällt nur, soweit ein entsprechender Arbeitgeber-Hinweis vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit auf den Resturlaub und die Aufforderung, diesen zu nehmen, erfolgt. Der Urlaub aus der Krankheitsphase verfällt dagegen nach 15 Monaten („im zweiten Folgejahr bis zum 31. März“) auch ohne Hinweis des Arbeitgebers, da dieser sinnlos erscheint, wenn der Arbeitnehmer durchgehend krank war.
b. Zum Umgang mit der Zeiterfassung – BAG-Urteil vom 13. September 2022
Das BAG hat mit seiner Entscheidung vom 13. September 2022 das Zepter in die Hand genommen, dem deutschen Gesetzgeber vorgegriffen und die EuGH-Entscheidung aus dem Jahr 2019 zur Zeiterfassung auch für deutsche Unternehmen als Teil des Arbeitsschutzes – nämlich dem Gesundheitsschutz (§ 3 Abs. 1 und 2 ArbSchG) der Arbeitnehmer – für verpflichtend erklärt. Das Gericht macht aber keine Vorgaben, wie und durch wen dies zu erfolgen hat.
Demnach sind viele Möglichkeiten eröffnet, wie die Unternehmen der Zeiterfassung nachkommen können. Wichtig ist, dass die Möglichkeit besteht, Lage, Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit zu erfassen. Dies kann händisch, in Excel-Tabellen, mit einem digitalen Zeiterfassungs-Tool oder einer Stechuhr erfolgen. Insofern ist auch die Vertrauensarbeitszeit weiterhin eine Option, solange die Arbeitszeit der Beschäftigten aufgezeichnet wird. Lediglich das Arbeiten ohne jegliche Aufzeichnungen der Arbeitszeiten ist nicht mehr möglich.
Handlungsbedarf
- Anpassung der Übermittlungsprozesse bzgl. Entgeltabrechnungen (gesetzliche Rentenversicherung) und Arbeitsbescheinigungen (Arbeitsagentur) sowie Vorhalten von Prozessen zum Umgang mit AU-Bescheinigungen von privat und gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern
- Erstellung eines Konzepts zur Handhabung von Pflege- und Familienzeiten
- Überprüfung der Urlaubsansprüche der Mitarbeiter, ggf. Korrektur von Rückstellungen und Entwicklung einer Strategie zum zukünftigen Umgang mit Resturlaubsansprüchen
- Überprüfung, ob Arbeitszeiten adäquat aufgezeichnet werden; Gesetzgebungsverfahren diesbezüglich beobachten